Unschuldig im Todestrakt? – Wiederaufnahmeverfahren nach 55 Jahren

Der japanische Staatsbürger Iwao Hakamada wurde 1968 wegen eines Verbrechens zum Tode verurteilt, welches er nach verschiedenen Untersuchungen höchstwahrscheinlich überhaupt nicht begangen hat…

Nach fast fünf Jahrzehnten im Gefängnis und 55 Jahre nach seiner Verurteilung zum Tode wurde dem heute 87-jährigen Iwao Hakamada (auch: Hakamata) die Wiederaufnahme seines Verfahrens durch das Obergericht in Tokio gewährt. Grund: Es gibt erhebliche Zweifel an früheren Beweisen, die zu seinem damaligen Schuldspruch führten.

Iwao Hakamada, ein ehemaliger Profiboxer und Fabrikarbeiter, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im Todestrakt – zumeist in Einzelhaft – und gilt damit als die Person, die weltweit am längsten in einer Todeszelle saß.

2014 wurde er, aufgrund der Zulassung der Wiederaufnahme seines Verfahrens durch das Bezirksgericht in Shizuoka, vorläufig aus dem Gefängnis entlassen. Doch aufgrund dessen, dass durch die Staatsanwaltschaft – trotz des Protestes seitens Amnesty Internationals und eines der drei Richter aus Hakamadas ursprünglichem Strafverfahren (Kumamoto Norimichi) – Berufung eingelegt wurde, hob das Obergericht in Tokio die Entscheidung des Bezirksgerichts in Shizuoka im Juni 2018 wieder auf.

Kumamoto Norimichi, der Iwao Hakamada zusammen mit zwei anderen Richtern zum Tode verurteilte, sagte: „(…) Ich fühle mich extrem schuldig, einen unschuldigen Mann verurteilt zu haben. Das tue ich noch immer – bis heute.“

Was war geschehen?

Hakamada wird vorgeworfen, im Jahr 1966 seinen Arbeitgeber und dessen Familie ermordet und danach das Haus der Familie in Brand gesetzt zu haben. Die Anschuldigungen beruhten auf Beweisen, die durch spätere Untersuchungen widerlegt worden waren. So fungierten als Beweismittel für Hakamadas Verurteilung mehrere Kleidungsstücke mit Blutflecken, die mehr als ein Jahr nach der Tat in einem Fass (mit Miso, einer japanischen Lebensmittelpaste) plötzlich „aufgefunden“ worden waren. Spätere DNA-Analysen ergaben jedoch keinerlei Verbindung zwischen Hakamada und der Kleidung. Gleichwohl besteht das Todesurteil, welches 1980 rechtskräftig wurde, weiterhin. Das „Geständnis“, das Hakamada nach seiner Verhaftung und wochenlangen Polizeivernehmungen (20 Tage, 12 Stunden pro Tag) ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand ablegte, entstand seinen Angaben nach unter Schlägen und Drohungen durch die Polizei, weshalb er es später auch widerrief.

Aufgrund der jahrelangen Isolation im Gefängnis und der ständigen Unsicherheit, wann und ob das Todesurteil gegen ihn vollstreckt werden würde, entwickelte Iwao Hakamada eine Psychose, die auf die Umstände in seiner Haft und seine abnehmende körperliche Verfassung zurückzuführen ist.

Das Verteidigungsteam von Hakamada gab nach der Entscheidung des Obergerichts in Tokio, die die Aussicht auf ein Wiederaufnahmeverfahren zunächst wieder zerschlagen hatte, nicht auf und legte seinerseits Rechtsmittel ein. Hakamada musste zudem nicht ins Gefängnis zurück. Ende 2020 wurde sodann am Obersten Gerichtshof Japans das Urteil gefällt, dass das Obergericht in Tokio seine damalige Entscheidung zu überprüfen habe – was letztlich zum aktuellen Stand in dieser Sache führte.

In Bezug auf die aktuelle Entscheidung des Obergerichts in Tokio vom 13. März 2023 äußerte der Vorsitzende Richter u. a. Zweifel, dass die blutbefleckten Kleidungsstücke (als Beweismittel) aufgrund der Farbgebung tatsächlich so lange in dem Miso-Fass gelegen hätten und verwies auf die Möglichkeit, dass diese vielmehr dort später von Dritten (z. B. Ermittlern) platziert worden seien.

Hideaki Nakagawa, Direktor der Amnesty International Sektion Japan, ordnete die neue Entscheidung des Obergerichts als „längst überfällige Chance“ ein, Iwao Hakamada „etwas Gerechtigkeit zu verschaffen“.

„Die Verurteilung von Hakamada basierte auf einer erzwungenen ‘geständigen Einlassung’ und es bestehen ernsthafte Zweifel hinsichtlich der anderen Beweismittel, welche gegen ihn verwendet wurden. Doch hat er im Alter von 87 Jahren immer noch nicht die Gelegenheit erhalten, gegen das Urteil vorzugehen, das ihn den größten Teil seines Lebens der ständigen Bedrohung durch den Galgen unterworfen hat“, resümiert Nakagawa.

Letzte Chance

Nun könnte Iwao Hakamada 55 Jahre nach seiner Verurteilung im Jahre 1968 endlich im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen werden. Damit dieses – generell langwierige – Verfahren tatsächlich stattfinden und Hakamada dieses trotz seines hohen Alters noch miterleben kann, ist der Verzicht auf eine erneute Rechtsmitteleinlegung durch die Staatsanwaltschaft von entscheidender Bedeutung.

Amnesty-Direktor Hideaki Nakagawa appellierte daher an die Staatsanwaltschaft, von einer Berufung gegen die jüngste Entscheidung abzusehen und so „den seit neun Jahren bestehenden Schwebezustand nicht zu verlängern, in welchem sich Hakamada seit seiner vorläufigen Haftentlassung im Jahr 2014 befindet.“

Offenbar hat sich die Staatsanwaltschaft dazu entschieden, keine Berufung gegen die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs einzulegen. Am 20. März 2023 verstrich eine vorgesehene Frist. Damit ist der Weg frei für die Wiederaufnahme des Verfahrens. Amnesty International fordert ein faires Verfahren für Iwao Hakamada sowie Kompensation für seine mentalen Qualen nach Jahren der Isolationshaft im Todestrakt. Die Menschenrechtsorganisation lehnt die Todesstrafe in allen Fällen und ohne Ausnahme ab, unabhängig von der Art oder den Umständen des Verbrechens, der Schuld, Unschuld oder anderen Merkmalen des Individuums oder der vom Staat angewandten Methode zur Hinrichtung.

Mehr dazu: Die Todesstrafe in Japan

Japan führt nach wie vor Hinrichtungen durch und besitzt keine Schutzgarantien gegen den Vollzug der Todesstrafe an Personen mit geistigen, psychosozialen oder intellektuellen Behinderungen. Das Land ist einer von weltweit nur noch zwei hoch industrialisierten Staaten, in dem weiterhin die Todesstrafe angewendet wird (der andere sind die USA).

Hinrichtungen werden in Japan durch Erhängen vollstreckt und üblicherweise im Geheimen durchgeführt. Todeszelleninsassen/-insassinnen erfahren von ihrer bevorstehenden Hinrichtung erst am Morgen desselben Tages und ihre Familien werden üblicherweise erst nach dem Vollzug der Todesstrafe über diese informiert.

2021 waren insgesamt drei Todesstrafen in Japan verhängt und drei Todesurteile vollstreckt worden. Zuletzt wurde am 26. Juli 2022 der 39-jährige Tomohiro Kato gehenkt, der 2008 bei einem Amoklauf in der Hauptstadt Tokio sieben Menschen getötet hatte.

21. März 2023