Iranische Sicherheitskräfte gehen brutal gegen Demonstrierende vor, die Gerechtigkeit im Fall der getöteten Mahsa Amini fordern. Die junge Frau starb, nachdem sie kurz zuvor von der iranischen „Sittenpolizei“ festgenommen worden war, weil sie angeblich ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit nicht korrekt getragen haben soll. Jetzt erfuhr Amnesty International, dass die iranischen Behörden beabsichtigen, im Zusammenhang mit dem Aufstand mindestens 28 Menschen hinrichten zu lassen. Darunter befinden sich auch drei Minderjährige. Die iranische Regierung setzt die Todesstrafe offenkundig als Instrument der politischen Repression ein, um der Öffentlichkeit Angst einzujagen und den Volksaufstand zu beenden. Bereits mindestens elf Personen wurden wegen ihrer Beteiligung an den Protesten in grob unfairen Scheinprozessen zum Tode verurteilt und zwei junge Männer wurden am 8. und 12. Dezember öffentlich hingerichtet.
Amnesty International befürchtet, dass angesichts Tausender Festnahmen und der hohen Zahl bereits erhobener Anklagen noch viele weitere Personen zum Tode verurteilt werden könnten. Gegen 26 Personen, denen der Tod durch den Strang droht, wird vor verschiedenen Gerichten der Prozess gemacht. Die Verfahren sind unterschiedlich weit fortgeschritten. Die in elf Fällen bereits ergangenen Todesurteile können vor dem Obersten Gerichtshof angefochten werden. Die iranischen Behörden haben allein in der ersten Jahreshälfte 2022, und zwar nicht im Kontext der Proteste, mindestens 251 Menschen hinrichten lassen. Mehr dazu in dieser [Eilaktion].
Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International, sagt: „Die iranischen Behörden müssen unverzüglich alle Todesurteile aufheben, von der Verhängung der Todesstrafe absehen und alle Anklagen gegen diejenigen fallen lassen, die im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Teilnahme an den Protesten festgenommen wurden. Die Todesstrafe ist eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafe, deren Abscheulichkeit durch ein grundlegend unfaires Strafverfahren ohne jegliche Transparenz oder Unabhängigkeit noch verstärkt wird.
Zwei Monate nach Beginn der aktuellen Proteste und drei Jahre nach den Protesten im November 2019 ermöglicht die herrschende Straflosigkeit den iranischen Behörden nicht nur weitere Massentötungen, sondern auch eine Verschärfung der Anwendung der Todesstrafe als Mittel der politischen Unterdrückung.“
Bereits elf Todesurteile gegen Demonstrierende gefällt
Beamte gaben bekannt, dass bis Anfang Dezember 2022 elf Personen wegen „Feindschaft zu Gott“ (moharebeh) und/oder „Korruption auf Erden“ (efsad-e fel arz) zum Tode verurteilt worden waren. Die Behörden haben ihre Namen nicht veröffentlicht, aber Amnesty International kennt die meisten zum Tode Verurteilten namentlich.
Von den zum Tode verurteilten Männern wurde nur einer im Zusammenhang mit dem Tod eines Polizeibeamten strafrechtlich verfolgt. Ein weiterer Mann war wegen seiner angeblicher Beteiligung an einer Brandstiftung und einem Angriff auf einen Staatsbediensteten angeklagt. Bei den anderen Männern lautet der Tatvorwurf mutmaßliche Akte von Vandalismus, Brandstiftung und Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums. Dies stellt einen weiteren schweren Verstoß gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Irans dar, die vorschreiben, die Verhängung der Todesstrafe auf „schwerste Verbrechen“ mit vorsätzlicher Tötung zu beschränkten.
Zwei Todesurteile an Demonstranten vollstreckt
Am 8. Dezember haben die iranischen Behörden erstmals einen jungen Teilnehmer an den Massenprotesten hingerichtet. Gehenkt wurde Mohsen Shekari [mehr erfahren]. Der 23-jährige hatte sich an den anhaltenden Demonstrationen im Land beteiligt. Er wurde in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt, das in keinster Weise den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprach. Die vage und weit gefasste Anklage lautete „Feindschaft zu Gott“ (moharebeh). Angeblich soll er „eine Straße in Teheran blockiert, Angst verbreitet, Menschen ihrer Freiheit und Sicherheit beraubt und eine Sicherheitskraft vorsätzlich mit einer Waffe (Messer) verletzt“ haben.
Diana Eltahawy, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International, verurteilt das Vorgehen der Behörden scharf:
Die Hinrichtung von Mohsen Shekari durch die iranischen Behörden ist entsetzlich. Vor weniger als drei Wochen wurde er in einem unfairen Scheinprozess schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Die Behörden machen damit auf grausame Weise ihre öffentlichen Drohungen wahr, Prozesse zur Verhängung von Todesurteilen zu beschleunigen und die Hinrichtungen zügig zu vollziehen. Wir befürchten, dass weitere Protestierende, die sich im Todestrakt befinden oder denen Kapitalverbrechen vorgeworfen werden, unmittelbar von der Hinrichtung bedroht sind.
Die schockierende Geschwindigkeit, mit der das Verfahren gegen Mohsen Shekari im Justizystem abgehandelt wurde, ohne ihm ein faires Verfahren oder wirksame Rechtsbehelfe zu gewähren, zeigt einmal mehr, dass die Behörden die Todesstrafe zur politischen Repression instrumentalisieren. Sie klammern sich verzweifelt an die Macht und verfolgen eindeutig das Ziel, die Bevölkerung einzuschüchtern und so die Unruhen zu beenden. Die internationale Gemeinschaft muss alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, damit alle iranischen Staatsbediensteten zur Verantwortung gezogen werden, denen völkerrechtliche Verbrechen vorgeworfen werden.
Am 12. Dezember gaben die Justizbehörden bekannt, das zweite Todesurteil im Zusammenhang mit den seit fast drei Monaten anhaltenden Protesten gegen die Führung in Teheran sei vollstreckt worden. Der 23-jährige Delinquent wurde öffentlich gehängt. Sein Tod löste landesweit Empörung aus. Mehr dazu [hier].
Weiteren 15 Protestierenden droht die Todesstrafe
Amnesty hat Kenntnis von weiteren 15 Personen, die im Zusammenhang mit den Protesten vor Gericht stehen und/oder die wegen Straftaten angeklagt sind, die mit der Todesstrafe geahndet werden können. Ihre Strafverfahren befinden sich derzeit in jeweils unterschiedlichen Stadien. Unter den Angeklagten sind auch drei 17-jährige Jungen sowie Toomaj Salehi, ein Rapper, dessen Anschuldigungen sich aus seiner Musik und seinen Posts in den sozialen Medien ergeben.
Unfaire Gerichtsverfahren
Amnesty International dokumentierte in den 28 untersuchten Fällen zahlreiche Verstöße gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Die Prozesse gegen Personen, die im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten zum Tode verurteilt wurden, haben mit einem aussagefähigen rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun. Die Behörden haben die Fälle beschleunigt, so dass die Schuldsprüche manchmal nur Tage nach Prozessbeginn erfolgten. Die iranischen Behörden haben außerdem mindestens vier Personen für Verbrechen wie Vandalismus, Körperverletzung und Brandstiftung zum Tode verurteilt, was einen weiteren schweren Bruch des Völkerrechts darstellt, nach welchem die Todesstrafe ausschließlich für „schwerste Verbrechen“ verhängt werden darf, bei denen es um vorsätzliche Tötung geht. Außerdem hat Amnesty International ernstzunehmende Folter- und Misshandlungsvorwürfe von mindestens zehn Personen dokumentiert, denen die Todesstrafe droht. Laut von Amnesty International gesammelten Informationen haben die Behörden bei-spielsweise Saman Seydi (Yasin) schwer geschlagen und extremer Kälte ausgesetzt, um „Geständnisse“ von ihm zu erpressen. Im Fall des Doktors der Medizin Hamid Ghare-Hasanlou, der am 05. Dezember 2022, und damit weniger als eine Woche nach einem unfairen Gerichtsverfahren, wegen „Verdorbenheit auf Erden“ zum Tode verurteilt wurde, teilten gut unterrichtete Kreise Amnesty International mit, dass die Behörden ihn mehrfach gefoltert haben, um „Geständnisse“ von ihm zu erpressen, was dazu führte, dass er mit gebrochenen Rippen, Atemproblemen und einer blutenden Lunge in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er dreimal operiert werden musste. Während des Prozesses zeigte Hamid Ghare-Hasanlou dem Richter / der Richterin seine durch die Folter verursachten Verletzungen, seine Vorwürfe wurden jedoch nicht untersucht.
Staatsanwaltliche und gerichtliche Behörden haben sich auf durch Folter erlangte „Geständnisse“ und andere Beweise gestützt, die unter Verletzung des Völkerrechts und internationaler Standards erlangt worden waren, um Anklageschriften und Urteile zu erstellen. So zwang man zum Beispiel Akbar Ghafari, der verhaftet worden war, nachdem er Demonstrierenden im Haus seiner Schwester in Teheran Unterschlupf gewährt hatte, laut einem Mitgefangenen dazu, eine erzwungene Zeugenaussage zu unterschreiben, die er nicht lesen konnte. Erst danach fand er heraus, dass er laut dieser Aussage fälschlicherweise beschuldigt wurde, ein Tötungsdelikt begangen zu haben. Die Behörden zwangen auch Hamid Ghare-Hasanlous Ehefrau, belastende Aussagen gegen ihn zu machen, die vor Gericht dazu verwendet wurden, ihn für schuldig zu befinden. Sie widerrief ihre „Geständnisse“ vor Gericht. Die Behörden haben Personen, die sie Verbrechen anklagten, auf die die Todesstrafe steht, das Recht auf eine Verteidigung ihrer Wahl sowohl während der Untersuchung als auch während des Prozesses verweigert und außerdem unabhängig gewählte Verteidiger daran gehindert, ihre Klient*innen vor Gericht zu vertreten und ihnen den Zugang zu Gerichtsakten und Urteilen ver-boten.
Das Recht, bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten, ist Berichten zufolge wiederholt von den Behörden verletzt worden, indem von mehreren Personen, denen die Todesstrafe drohte, Geständnisse in den staatlichen Medien gesendet wurden, bevor das Gerichtsverfahren stattgefunden hatte. Der Fußballspieler Amir Nasr Azandi, der der „bewaffneten Rebellion gegen den Staat“ angeklagt war, wurde vom Chef der Justizabteilung Isfahans in einem Interview der staatlichen Medien vom 11. Dezember 2022, also vor seinem Prozess, für schuldig erklärt, indem er sagte: „der Angeklagte hat seine kriminellen Taten eindeutig gestanden“. Außerdem sagte er während des Prozesses: „es gibt genügend Beweise, die seine Mitarbeit in einer bewaffneten Gruppe belegen.
„Hart durchgreifen“
In einer Erklärung haben 227 der 290 iranischen Parlamentarier*innen die Justizbehörden aufgefordert, „keine Nachsicht“ mit den Demonstrierenden zu üben, zwingend und zügig Todesurteile gegen sie zu verhängen und diese öffentlich zu vollstrecken. So soll anderen eine „Lehre“ erteilt werden. Auch der Leiter der Justizbehörden, Gholamhossein Mohseni-Ejei, forderte rasche Gerichtsverfahren und Bestrafungen, einschließlich Hinrichtungen.
Amnesty fordert,
alle Verurteilungen und Todesurteile, die im Zuge der Proteste ergangen sind, unverzüglich aufzuheben, von weiteren Todesurteilen abzusehen und sicherzustellen, dass jeder, der einer erkennbaren Straftat angeklagt ist, ein nach internationalen Standards faires Gerichtsverfahren erhält, ohne Rückgriff auf die Todesstrafe. Die Grundsätze der Jugendgerichtsbarkeit müssen bei minderjährigen Angeklagten beachtet werden. Amnesty verlangt, alle Personen freizulassen, die wegen der Ausübung ihres Rechts auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit inhaftiert sind. Inhaftierten ist Zugang zu ihren Familien und Anwälten ihrer Wahl zu gewähren, sie sind vor Folter und anderen Misshandlungen zu schützen. Foltervorwürfe müssen untersucht und die dafür Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.
Amnesty International fordert alle Regierungen mit Botschaften in Iran auf, unverzüglich hochrangige Beobachter*innen zu allen laufenden Prozessen zu entsenden, bei denen den Angeklagten im Zusammenhang mit dem Aufstand ein Todesurteil droht. Laut den iranischen Behörden sind diese Prozesse öffentlich.
Hintergrund
Die Sicherheitsbehörden gehen regelmäßig mit brutaler und tödlicher Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Amnesty International hat bereits mehr als 200 Todesfälle namentlich dokumentiert, darunter 30 Minderjährige und Kinder. Die tatsächliche Zahl der Getöteten ist jedoch deutlich höher.
Laut einer geleakten Audiodatei, die dem persischsprachigen Dienst der BBC vorliegt, haben die iranischen Behörden in einer ersten Festnahmewelle seit Beginn der Proteste zwischen 15.000 und 16.000 Menschen willkürlich festgenommen. Zu den Betroffenen gehören Demonstrierende, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Dissident*innen, Studierende und Schüler*innen. Viele von ihnen wurden verschleppt, in Isolationshaft gehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt. Viele stehen in unfairen Verfahren vor Gericht.
Am 8. November 2022 gaben die iranischen Justizbehörden bekannt, dass allein im Zusammenhang mit den Protesten in der Provinz Teheran 1.024 Anklagen erhoben wurden. Einzelheiten zu den Anschuldigungen nannten sie nicht.
UN-Sondersitzung zu den Protesten in Iran
Amnesty International forderte seit Wochen eine Sondersitzung der Vereinten Nationen zu Iran und hat weltweit über eine Million Unterschriften dafür gesammelt. Nun zeigt dieser Einsatz Wirkung: Der UN-Menschenrechtsrat in Genf befasst sich am 24. November mit der Lage in Iran – zum ersten Mal in der Geschichte des Rates. Deutschland und Island haben diesen Termin beantragt. Der Rat verabschiedete eine Resolution, die eine unabhängige Untersuchung der anhaltenden Gewalt gegen friedlich Demonstrierende in Iran vorsieht. Expert*innen sollen Verstöße gegen die Menschenrechte dokumentieren und Beweismaterial sammeln, damit die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können.
Am Mittwoch, 23. November 2022, demonstrierte Amnesty vor dem Deutschen Bundestag [mehr zur Kundgebung] und richtete an die Bundesregierung die Forderung, dass die Menschenrechtsverbrechen in Iran dringend unabhängig untersucht werden müssen.
Mehr dazu
Du möchtest aktiv werden und dich für die 28 zum Tode Verurteilten einsetzen? [Hier] findest du eine Eilaktion mit einem Appellvorschlag deutsch / englisch und weiteren Hintergrundinformationen.