Licht und Schatten – Die Bilanz zur Todesstrafe 2021

Erneut hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ihren jährlichen Bericht zur Lage der Todesstrafe auf der Welt vorgestellt. Und die Schlussrechnung für das Jahr 2021 fällt enttäuschend aus, wenn man zunächst nur die nüchternen Zahlen sprechen lässt.

  • Amnesty International verzeichnete in Summe 579 Hinrichtungen (in 18 Ländern), was einem Anstieg von 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2020 (483) entspricht. Besonders Iran und Saudi-Arabien weiteten staatliche Exekutionen stark aus.
  • In 56 Staaten wurden insgesamt mindestens 2.052 Menschen zum Tode verurteilt. Zum Vergleich: 2020 waren es 1.477 Todesurteile in 54 Ländern. Dies kommt einer Zunahme von 39 Prozent gleich. Besonders markant war die Zunahme an Todesstrafen in Ägypten, Bangladesch, Indien, Myanmar und Pakistan.

Die Länder mit den höchsten bekannt gewordenen Hinrichtungszahlen sind China, Iran, Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien – in dieser Reihenfolge.

Mit großer Wahrscheinlichkeit fällt die Bilanz sogar noch düsterer aus, denn ausgenommen werden mussten die Länder, die Daten zur Todesstrafe als Staatsgeheimnis einstufen (China und Vietnam) oder die nur sehr begrenzte Informationen veröffentlichen.

Fest steht, dass China auch weiterhin weltweit der größte Henker bleibt, aber genaue Zahlen sind unbekannt, da China Informationen zur Anwendung der Todesstrafe unter Verschluss hält. So sind die Tausenden von Todesurteilen, die in China mutmaßlich jährlich verhängt und auch vollstreckt wurden, in der weltweiten Bilanz zur Todesstrafe 2021 nicht enthalten. Wenige bis gar keine Informationen konnten 2021 auch über Staaten wie Belarus, Laos, Nordkorea und Vietnam erlangt werden. Deshalb ist davon auszugehen, dass die tatsächlichen Zahlen sogar höher liegen.

  • Bei Jahresende befanden sich weltweit mindestens 28.670 Personen im Todestrakt und mussten mit ihrer Hinrichtung rechnen.

 

Wie ist die Bilanz einzuordnen?

Ein kleiner Lichtblick ist, dass trotz der Zunahme der Hinrichtungen die Zahl für 2021 auf einem historischen Tiefstand bleibt und die zweitniedrigste Zahl an weltweiten Hinrichtungen darstellt, die Amnesty seit mindestens 2010 verzeichnet hat. Ähnliches gilt auch für die globale Gesamtzahl an neu verhängten Todesurteilen, die zwar ebenfalls gegenüber dem Vorjahr kräftig anstieg, dennoch die zweitniedrigste Jahresbilanz markiert, die Amnesty seit 2016 verzeichnet hat. Diese Anstiege sind zum Teil, aber nur zum Teil, der Lockerung der Coronamaßnahmen geschuldet, die die gerichtlichen Prozesse zuvor verlangsamt hatten.

Trotz dieser unschönen Zahlen zeigten aber auch positive Entwicklungen das ganze Jahr über, dass der Trend nach wie vor in Richtung Abschaffung dieser grausamen Strafe geht. Zum zweiten Mal hintereinander lag die Zahl der Länder, von denen bekannt ist, dass sie Todesurteile vollstreckt haben, bei 18. Das ist die niedrigste Zahl, die Amnesty International jemals verzeichnet hat und bestätigt erneut, dass es nur noch eine isolierte Minderheit von Staaten ist, die sich dafür entscheidet, weiterhin Menschen hinzurichten.

Und auch 2021 machten wieder drei Staaten kompromisslos Schluss mit der Todesstrafe: Kasachstan, Sierra Leone und Papua-Neuguinea stellten die Weichen für die vollständige Abschaffung der Todesstrafe aus ihren Rechtssystemen. In 144 Ländern (mehr als zwei Drittel aller Staaten) ist die Todesstrafe mittlerweile in Gesetz oder Praxis außer Vollzug gesetzt. 55 Staaten halten weiterhin an der Todesstrafe fest, mit abnehmender Tendenz.

Amnesty International ist entschieden gegen die Todesstrafe und spricht sich unter allen Umständen dagegen aus, da sie eine grausame und erniedrigende Strafe ist, die keineswegs in besonderer Weise abschreckend auf kriminelles Verhalten wirkt und die eine inakzeptable Verweigerung der menschlichen Würde und Integrität darstellt. Die Todesstrafe ist in ihrem Kern eine durch nichts zu rechtfertigende Menschenrechtsverletzung.

 

Wo gab es 2021 Licht, wo gab es Schatten?

Positiv: Immer mehr Länder geben die Todesstrafe auf oder üben Zurückhaltung bei ihrer Anwendung.

Der globale Trend zur Abschaffung der Todesstrafe ist nicht mehr umzukehren. Jedes Jahr wird der Kreis derjenigen Staaten, die auf die Todesstrafe verzichten, größer. Auch der Bundesstaat Virginia kündigte 2021 als 23. Staat und als erster Südstaat der USA die Todesstrafe auf. Der US-Bundesstaat Ohio stoppte alle geplanten Exekutionen und die neue Regierung der USA gab im Juli bekannt, dass sie alle Hinrichtungen auf Bundesebene bis auf Weiteres aussetzen werde.

Die Regierung Malaysias informierte, im dritten Quartal 2022 geplante Rechtsreformen zur Todesstrafe vorlegen zu wollen. In der Zentralafrikanischen Republik und in Ghana wurden rechtliche Prozesse zur Abschaffung der Todesstrafe angestoßen, die im aktuellen Jahr 2022 weiterlaufen und hoffentlich zum Erfolg führen werden.

 

„Die Todesstrafe ist ein fundamental fehlerhaftes System – sie ist ungerecht, ineffektiv und hat keinen Platz – weder in diesem Bundesstaat noch in diesem Land. In Virginia haben nur wenige Tage bis zur Hinrichtung unschuldiger Menschen gefehlt und schwarze Angeklagte sind überproportional häufig zum Tode verurteilt worden. Diese unmenschliche Praxis abzuschaffen, ist ein Gebot der Moral.“

                       Ralph S. Northam, ehemaliger Gouverneur des US-Bundesstaats Virginia, 24. März 2021

Im Gegensatz zu 2020 dokumentierte Amnesty International in Indien, Katar und Taiwan 2021 keine Exekutionen. Pakistan vermeldete sogar das zweite Jahr in Folge keine Hinrichtungen. Deutlich weniger Hinrichtungen fanden im Vergleich zum Vorjahr in Ägypten (-22 %), Irak (-62 %) und den USA (-35 %) statt. Bahrain, die Komoren, Laos und Niger sprachen 2021 – im Unterschied zum Vorjahr – keine neuen Todesurteile aus. In Thailand wurden Todesstrafen weiterhin umgewandelt. Das alles sind möglicherweise erste Schritte, um die Todesstrafe alsbald aufzugeben.

Ganze Kontinente sind inzwischen fast vollständig von der Todesstrafe abgerückt: Die USA waren das 13. Jahr in Folge auch 2021 das einzige Land der Region Amerika (Nord- und Südamerika), in dem Todesurteile vollstreckt wurden. Nur noch drei Länder sprachen Todesurteile aus: USA, Guyana sowie Trinidad und Tobago.

In der Region Europa und Zentralasien ist Belarus der einzige Staat, der weiterhin Hinrichtungen durchführt, so auch 2021. Die Russische Föderation und Tadschikistan halten offizielle Hinrichtungsmoratorien ein.

In der Region Asien und Pazifik, die 21 Staaten umfasst, wurden in nur fünf Ländern Hinrichtungen vollzogen. Damit war diese Länderliste so kurz wie seit mindestens 20 Jahren nicht mehr. Malaysia hält ein offizielles Hinrichtungsmoratorium ein. Die Gefahr der Wiedereinführung der Todesstrafe auf den Philippinen ist kleiner geworden, weil sich ehemalige Befürworter*innen im Parlament inzwischen gegen solche Pläne aussprachen.

Negativ: In Teilen mehr Todesurteile und Hinrichtungen

Dass die globale Gesamtzahl an Hinrichtungen gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent anstieg, geht im Wesentlichen auf das Konto einiger weniger Staaten: In Iran wurden mindestens 314 Menschen hingerichtet (2020: mindestens 246), so viele wie seit 2017 nicht mehr. Auch in Saudi-Arabien stiegen die dokumentierten Hinrichtungen gar von 27 auf 65 an – was einer Zunahme von 140 Prozent entspricht. Deutliche Zunahmen – wenn auch auf niedrigerem Niveau – waren in Jemen, Somalia, Südsudan und Syrien zu verzeichnen. Belarus, Japan und die Vereinigten Arabischen Emirate nahmen nach Phasen der Unterbrechung im Jahr 2021 (bzw. Singapur Anfang 2022) wieder Hinrichtungen auf.

Gleichermaßen verhielt es sich mit den neu gefällten Todesurteilen. Sie lagen in Summe um fast 40 Prozent höher als noch im Vorjahr. Doch auch hier sind es einige wenige Staaten, die vermehrt oder nach Pausen wieder auf die Todesstrafe setzten und somit die Bilanz „verdarben“. Eine deutliche Zunahme an verhängten Todesstrafen beobachtete Amnesty in den afrikanischen Ländern Demokratische Republik Kongo und Mauretanien. Ähnliches gilt auch für einige asiatische Länder wie Bangladesch, Indien, Myanmar, Pakistan und Vietnam, deren neu gefällte Todesstrafen um 58 Prozent gegenüber dem Vorjahr anstiegen. Auch in der Region Nordafrika und Naher Osten waren Staaten wie Ägypten, Irak, Jemen und Libanon dafür verantwortlich, dass sich die Zahl der Todesstrafen deutlich erhöhte. Äthiopien, Guyana, die Malediven, Oman, Tansania und Uganda fällten wieder Todesurteile, was sie 2020 nicht getan hatten.

Kritisch zu betrachten ist die Intransparenz, die in etlichen Ländern herrscht. Dort wo Angaben zur Todesstrafe als Staatsgeheimnis eingestuft werden oder wo Berichte nicht unabhängig überprüfbar sind, kann Amnesty keine fundierte Bewertung vornehmen.

Negativ: Verbote und Einschränkungen missachtet

Das Völkerrecht verbietet (noch nicht) die Todesstrafe explizit, legt ihr aber konkrete und verbindliche Fesseln an. Es ist daher empörend zu erkennen, dass selbst diese Mindeststandards bei der Verhängung der Todesstrafe in vielen Ländern schlicht missachtet werden. Dort, wo diese Grenzen nicht eingehalten werden, geschieht Unrecht und es wächst das Risiko, möglicherweise oder tatsächlich Unschuldige hinzurichten.

Der Amnesty-Bericht listet wieder etliche unschöne Belege dafür auf, dass die Todesstrafe auch im Jahr 2021 auf eine Weise verhängt wurde, die gegen internationales Recht und internationale Standards verstieß. Einige prägnante Beispiele waren:

●   Mindestens neun Personen wurden in Jemen öffentlich hingerichtet.

●   Die Todesstrafe macht auch nicht Halt vor Kindern: Vier Menschen wurden für Straftaten hingerichtet, die sie als Minderjährige (unter 18-Jährige) begangen hatten, und zwar in Iran (3) und Jemen (1). In Iran, Myanmar und auf den Malediven saßen Berichten zufolge weitere zur Tatzeit Minderjährige in der Todeszelle.

●   Menschen mit geistiger (psychosozialer) oder intellektueller Behinderung wurden in mehreren Ländern, darunter Japan, Malediven, Singapur und USA, zum Tode verurteilt.

●   Unfaire Verfahren, Folter
Todesurteile wurden in mehreren Ländern nach Gerichtsverfahren verhängt, die internationalen Standards für faire Verfahren nicht entsprachen. Des Öfteren waren Angeklagte anwaltlich nicht oder nur unzureichend vertreten, oder es wurden „Geständnisse“, die möglicherweise durch Folter oder andere Misshandlungen erzwungen worden waren, verwendet, um Menschen zum Tode zu verurteilen. Manchmal ergingen Todesurteile in Abwesenheit, also ohne, dass die angeklagte Person im Gerichtsverfahren zugegen war. Militärgerichte sprachen über Zivilisten Recht und verhängten Todesurteile. Unfaire Gerichtsverfahren beobachtete Amnesty in Ägypten, Algerien, Bangladesch, Iran, Jemen, Kamerun, Myanmar, Nigeria, Pakistan, Saudi-Arabien, Singapur und Somalia.

●   Nicht nur für schwerste Verbrechen
Viele Staaten verurteilen Menschen zum Tode und führen auch Hinrichtungen für Delikte durch, die nicht zu den „schwersten Verbrechen“ zählen. Darunter sind einzig vorsätzliche Straftaten mit tödlichem Ausgang zu verstehen, eine Schwelle, die das Völkerrecht für die Verhängung eines Todesurteils setzt. Todesurteile ergingen in praxi für Drogendelikte, Wirtschaftskriminalität wie Korruption, „Blasphemie“ oder „Beleidigung des Propheten des Islam“, „Feindschaft zu Gott“, Vergewaltigung, Verrat, Spionage etc.

●   Hinrichtung von Unschuldigen
Solange an der Todesstrafe festgehalten wird, kann das Risiko, dass Unschuldige hingerichtet werden, in keinem Rechtssystem der Welt gänzlich ausgeschlossen werden. Nicht wenige dieser Fehlurteile gehen auf eine unzureichende Verteidigung und Verfehlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zurück. Weitere Ursachen liegen darin begründet, dass in den Verfahren unglaubwürdige Hauptbelastungszeugen, Beweismittel und Geständnisse zugelassen wurden. Amnesty International dokumentierte 2021 in 19 Ländern Umwandlungen von Todesurteilen oder Begnadigungen. In mindestens sieben Fällen in vier Ländern mussten Todesurteile aufgehoben werden.

●   Todesstrafe als Instrument staatlicher Repression
2021 setzten zahlreiche Staaten die Todesstrafe als Instrument der staatlichen Repression von Minderheiten und Demonstrierenden ein. So war die Militärregierung in Myanmar für einen besorgniserregenden Anstieg in der Anwendung der Todesstrafe verantwortlich. Das Militär stellte unter dem herrschenden Kriegsrecht Zivilpersonen vor Militärgerichte, wo sie in Eilverfahren zum Tode verurteilt wurden und keine Rechtsmittel einlegen konnten. In Ägypten kam es zu Massenhinrichtungen. Die Todesurteile waren zuvor von Notstandsgerichten für Staatssicherheit gefällt worden. Iran verhängte unverhältnismäßig oft Todesurteile gegen Angehörige ethnischer Minderheiten wegen vager Anschuldigungen wie „Feindschaft zu Gott“ und als Instrument politischer Repression.

 

Fazit

Dieses gemischte Bild zeigt erneut, wie wichtig es ist, den Kampf gegen die Todesstrafe fortzusetzen, denn hinter jeder Zahl steckt ein menschliches Schicksal.

Ein zutiefst mangelhaftes Justizsystem verurteilte beispielsweise Mustafa al-Darwish in Saudi-Arabien zum Tode. Die Behörden beschuldigten den jungen Saudi und Angehörigen der schiitischen Minderheit, an einem gewalttätigen Protest gegen die Regierung teilgenommen zu haben. Er wurde im Juni 2021 hingerichtet – nach einem grob unfairen Gerichtsverfahren, in dem ein durch Folter erzwungenes „Geständnis“ als belastendes Material verwendet wurde.

Die vielen positiven Beispiele und Entwicklungen, die der Bericht auch dokumentiert, machen Mut, dass eine Welt ohne Todesstrafe möglich ist.

 

Mehr zum Thema:

♦   Mehr zum Thema Todesstrafe findest auf [www.amnesty.de]

♦   Pressemitteilung [deutsch]

♦   Hinrichtungen & Todesurteile 2021 – Bericht [englisch] ¦ Zahlen & Fakten [deutsch]

♦   Hinrichtungen & Todesurteile 2021 – Weitere Materialien [Karte] ¦ [Länderübersicht]

♦   Staaten mit und ohne Todesstrafe [Karte] ¦ [Länderliste]

♦   Wenn der Staat tötet – Zahlen & Infos zur Todesstrafe [Hintergrund-Briefing]

♦   Interaktive Karte zur Todesstrafe weltweit 2008 – 2021 (englisch) [Karte]

26. Mai 2022