Amnesty International belegt in einem am Dienstag, 03. August 2021, veröffentlichten Briefing, dass die saudi-arabischen Behörden die Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger_innen und Dissident_innen seit der G20-Präsidentschaft des Landes im vergangenen Jahr drastisch verschärft haben. Die Zahl der Hinrichtungen hat sich in den vergangenen sechs Monaten auf besorgniserregende Weise vervielfacht.
Als das Königreich Saudi-Arabien den Vorsitz der G20-Staaten innehatte, hielt es sich mit der Vollstreckung von Todesurteilen zurück. Auch wurden deutlich weniger politische Aktivist_innen verfolgt. Doch nun zeigt die Golfmonarchie wieder ein anderes Gesicht, wie Amnesty International feststellen musste.
G20
Die G20 (Abkürzung für Gruppe der Zwanzig) ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss aus 19 Staaten und der EU. Sie repräsentiert die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Die G20 dient vor allem als Forum für den Austausch über Probleme des internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems, aber auch zur Koordination bei weiteren globalen Themen wie Klimapolitik, Frauenrechte, Bildungschancen, Migration und Terrorismus. Der Vorsitz der G20 wird von den Mitgliedsländern im Wechsel für jeweils ein Jahr übernommen.
Nach dem Gipfel nehmen Repressionen und Hinrichtungen zu
Der Amnesty-Bericht „Saudi-Arabiens Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit nach dem G20-Gipfel“ dokumentiert nun, dass es seit der Abgabe der G20-Präsidentschaft Saudi-Arabiens Anfang Dezember 2020 zu mehr Repressionen und vor allem zu einem starken Anstieg der Hinrichtungen kam. Zwischen Januar und Juli 2021 exekutierte Saudi-Arabien schon mindestens 40 Menschen – mehr als im gesamten Jahr 2020. Allein im Monat Dezember 2020, also kurz nachdem das Königreich den Vorsitz wieder abgegeben hatte, wurde an neun Menschen das Todesurteil vollstreckt. Im Jahr 2020 – während der Zeit der saudischen G20-Präsidentschaft – waren insgesamt 27 Menschen hingerichtet worden, was einem Rückgang der registrierten Hinrichtungen um 85 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach. Dass dieser Rückgang auch durch die Covid-19-Pandemie beeinflusst wurde, ist unbestritten. Es ist jedoch bezeichnend, dass im Zeitraum von Ende Juli bis November 2020, also kurz bevor der G20-Gipfel Ende November in Riad stattfand, der Golfstaat gar keine Hinrichtungen vornahm.
„Sobald das Rampenlicht des G20-Gipfels auf Saudi-Arabien verblasst war, nahmen die Behörden ihre rücksichtslose Verfolgung von Menschen wieder auf“, sagte Lynn Maalouf, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International. „Die kurze Aussetzung der Repressionen und der Todesstrafe rund um die Ausrichtung des G20-Gipfels in Saudi-Arabien zeigt, dass sich die Illusion von Reformen lediglich als eine PR-Aktion entpuppte.“ Mehrere Menschen seien auf „Grundlage grob unfairer Gerichtsverfahrens“ zu Haftstrafen und auch zum Tode verurteilt worden. „Geständnisse“ wurden durch Folter erzwungen. „Saudi-Arabiens Pläne für begrenzte Gesetzes- und Menschenrechtsreformen haben keine Bedeutung, solange Hinrichtungen, unfaire Gerichtsverfahren und die unerbittliche Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger_innen, Aktivistinnen und Journalist_innen weitergehen“, kommentierte Lynn Maalouf. Nach Recherchen von Amnesty sitzen derzeit noch mindestens 39 Menschen in dem Golfstaat wegen ihrer Menschenrechtsarbeit oder freier Meinungsäußerung in Haftanstalten.
Saudi-Arabien ist ein „Top-Henkerstaat“
Saudi-Arabien hat eine der höchsten Hinrichtungsraten weltweit: zwischen 1985 und 2020 wurden mehr als 2.500 Menschen hingerichtet. Die üblichste Methode in Saudi-Arabien ist die Enthauptung durch ein Schwert. 2019 hat der Golfstaat 184 Menschen – teils auch öffentlich – exekutieren lassen. In vielen Fällen erfolgten die Hinrichtungen nach in unfairen Gerichtsverfahren gefällten Todesurteilen, die von Foltervorwürfen während der Untersuchungshaft überschattet waren. Durch Folter erzwungene „Geständnisse“ wurden von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Den Foltervorwürfen der Angeklagten gingen die Staatsanwaltschaften systematisch nicht nach. Amnesty hat seit 2013 zudem einen starken Anstieg bei Todesurteilen gegen politisch Andersdenkende in Saudi-Arabien dokumentiert.
Ein Fall unter vielen
Am 15. Juni 2021 wurde Mustafa al-Darwish, ein junger Angehöriger der schiitischen Minderheit, hingerichtet, nachdem er 2018 vom Sonderstrafgerichtshof (SCC) in einem grob unfairen Verfahren wegen einer Reihe terrorbezogener Straftaten zum Tode verurteilt worden war. In einer Verhandlungssitzung sagte er dem Richter: „Ich wurde bedroht, geschlagen und gefoltert, um ein Geständnis abzulegen… Ich habe aus Angst um mein Leben gestanden“. Mustafa al-Darwish könnte zum Zeitpunkt seiner angeblichen Verbrechen 17 oder 18 Jahre alt und somit minderjährig gewesen sein. Nach internationalem Recht ist die Verhängung der Todesstrafe gegen Personen, die zum Zeitpunkt der Tat unter 18 Jahre alt waren, streng verboten. Mit dieser Hinrichtung haben die saudi-arabischen Behörden ihre Missachtung des Rechts auf Leben erneut deutlich gemacht. Mustafa al-Darwish ist eines der jüngsten Opfer des zutiefst fehlerhaften saudi-arabischen Justizsystems.
Anfang 2021 kündigten die saudi-arabischen Behörden umfassende Reformen hinsichtlich der Todesstrafe an, darunter ein Moratorium für Hinrichtungen wegen Drogendelikten, das aber noch nicht offiziell in Kraft getreten ist. Vorangegangen war im April 2020 eine königliche Anordnung, die Anwendung der Todesstrafe gegen zur Tatzeit unter 18-jährige Personen zu beenden, sofern es sich um Verbrechen handelt, die nicht unter das Antiterrorgesetz fallen. Ersetzt werden sollte die Todesstrafe bei Jungendlichen durch eine Höchststrafe von 10 Jahren Gefängnis. Konkrete Durchführungsbestimmungen blieben jedoch bis dato unveröffentlicht. Die Ankündigung folgt auf das 2018 erlassene Jugendgesetz, das Gerichten untersagt, nach freiem Ermessen Todesurteile gegen Personen unter 15 Jahren zu verhängen. Dies hindert Gerichte jedoch nicht daran, Todesurteile gegen Jugendliche dieser Altersgruppe zu verhängen, wenn es sich um Verbrechen handelt, für die das islamische Recht (Scharia) schwere Strafen zwingend vorschreibt (hadd), oder um Verbrechen, die mit Vergeltung (qisas) bestraft werden können. Amnesty fordert klare Anwendungsbestimmungen zu erlassen, die die Todesstrafe für Minderjährige ohne Ausnahmen bannen.