Justizirrtum in Taiwan

Der Oberste Gerichtshof Taiwans hat am 27. Oktober 2017 den Todestraktinsassen Cheng Hsing-tse nach fast 15 Jahren Haft von allen Anklagepunkten freigesprochen und sein Todesurteil aufgehoben. Der 50-Jährige war für schuldig befunden worden, einen Polizeibeamten getötet zu haben.

Cheng Hsing-tse wurde angelastet, 2002 während eines Schusswechsels in einer Karaoke-Bar in Taichung einen Polizisten tödlich verletzt zu haben. Am 18. November 2002 verurteilte ihn das Bezirksgericht Taichung zum Tode. Der Fall durchlief sieben Gerichtsverfahren und acht Wiederaufnahmeverfahren, darunter die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 2006, das Todesurteil aufrechtzuerhalten. Das Verfahren wurde letztes Jahr wieder aufgenommen und Chen gegen Kaution im Mai 2016 freigelassen. Neue Indizien, die Zweifel am Schuldspruch von Cheng nährten, hatte die Generalstaatsanwaltschaft im März 2016 dazu veranlasst, ein Wiederaufnahmeverfahren zu beantragen. Cheng Hsing-tse soll im Polizeigewahrsam durch Folter zu einem „Geständnis“ gezwungen worden sein. Die Staatsanwaltschaft bestritt jedoch seine Behauptungen und sagte, die Verteidigung könne diese Vorwürfe nicht beweisen. Es gab allerdings auch Zweifel daran, wer den Polizisten erschoss, da sich die Zeugen in Widersprüche verwickelten.

Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, die sich für Cheng eingesetzt hatten, sagten als dieser von allen Anklagepunkten freigesprochen worden war: „Es kann keine Freude aufkommen, weil der Fall erneut beweist, dass unschuldige Menschen zu Unrecht zum Tode verurteilt werden.“ Auch Cheng, der während seiner mehr als 14-jährigen Inhaftierung zehn Jahre im Todestrakt verbrachte und immer seine Unschuld beteuert hatte, äußerte sich zu seiner Entlassung: „Seit 15 Jahren wurde ich ein Polizisten-Mörder genannt und habe im Todestrakt gelebt. Jeden einzelnen Tag war ich dem Terror ausgesetzt, hingerichtet zu werden, und dass meine Familie diese verheerenden Nachrichten erhält. Meine Familie und ich sind durch ein Martyrium des Schmerzes und der Angst gegangen, unvorstellbar für andere.“ An die Familie des Opfers gerichtet sagte er: „Heute bin ich entlastet. Fünfzehn Jahre später kann ich Ihnen endlich sagen: Ich bin nicht der Mörder Ihres Vaters. Obwohl Sie und ich uns auf den entgegengesetzten Seiten dieses tragischen Ereignisses befinden, haben wir eines gemeinsam: Wir haben beide die schrecklichste Qual des Verlustes, der Trauer, des Hasses, der zerbrochenen Hoffnungen und Träume erlebt. Ihre Familie wie meine sind alle Opfer dieser Tragödie.“

Solange die Todesstrafe beibehalten wird, kann das Risiko, Unschuldige hinzurichten, nicht ausgeschlossen werden. Kein Rechtssystem, so gewissenhaft es auch arbeitet, ist unfehlbar. Im Gegensatz zu anderen Strafen kann aber ein vollstrecktes Todesurteil nicht revidiert werden. Das Problem, möglicherweise oder tatsächlich Unschuldige zum Tode zu verurteilen oder gar hinzurichten, beschränkt sich nicht auf Taiwan allein. Zu Unrecht verhängte Todesurteile sind 2016 zum Beispiel auch aus Bangladesch, China, Ghana, Kuwait, Mauretanien, Nigeria, Sudan, USA und Vietnam bekannt geworden.

Amnesty International, Koordinationsgruppe gegen die Todesstrafe, 10. November 2017