Saudi-Arabien erlebt in diesem Jahr einen steilen Anstieg der Hinrichtungen: In der ersten Hälfte des Jahres 2015 sind bereits mehr Menschen exekutiert worden als im gesamten Vorjahreszeitraum.
Am Dienstag, dem 25. August 2015, hat Amnesty International einen Bericht mit Zahlen und Fakten zur Todesstrafe in Saudi-Arabien veröffentlicht. Der 44-seitige Bericht Killing in the Name of Justice: The Death Penalty in Saudi Arabia legt die erschreckend willkürliche Anwendung der Todesstrafe in dem Königreich offen, wo Todesurteile oft nach Gerichtsverfahren verhängt werden, die sich eklatant über internationale Standards hinwegsetzen.
Hunderte von Menschen wurden zum Tode verurteilt, nachdem sie in unfairen Gerichtsverfahren von Saudi-Arabiens völlig fehlerhaftem Justizsystem für schuldig befunden worden waren. „Dies ist schlichtweg schändlich“, urteilt Said Boumedouha, Direktor der Abteilung für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International. „Die Anwendung der Todesstrafe ist unter allen Umständen abscheulich und besonders beklagenswert, wenn sie willkürlich nach grob unfairen Prozessen verhängt wird.“
Said Boumedouha resümiert: „Saudi-Arabiens fehlerhaftes Justizsystem ermöglicht legale Hinrichtungen in großem Maßstab. In vielen Fällen wird den Angeklagten der Zugang zu einem Rechtsanwalt verweigert und in einigen Fällen werden sie auf Grundlage von ‚Geständnissen‘ für schuldig befunden, die unter Folter oder anderen Misshandlungen erlangt wurden, was zu flagranten Fehlurteilen führt.“
Anwendung der Todesstrafe
Der Bericht dokumentiert, dass zwischen August 2014 und Juni 2015 mindestens 175 Menschen exekutiert wurden – im Durchschnitt alle zwei Tage eine Person. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 fanden mindestens 102 Hinrichtungen statt; im gesamten Jahr 2014 waren es 90. Die Todesstrafe wird zumeist durch Enthaupten öffentlich vollstreckt.
Ein Drittel aller seit 1985 durchgeführten Hinrichtungen fand nicht wegen Straftaten statt, die zu den „schwersten Verbrechen“ gehören und für die die Todesstrafe nach dem Völkerrecht ausschließlich verhängt werden darf, sondern wegen Drogendelikten. Im Zeitraum 2014 bis Juni 2015 erfolgte nahezu jede zweite Hinrichtung wegen Drogenvergehen und somit für nichttödliche Verbrechen.
Bei fast der Hälfte der seit 1985 in Saudi-Arabien Hingerichteten handelte es sich um ausländische Staatsangehörige. Vielen von ihnen wurde während ihres Prozesses weder in ausreichendem Maße Dolmetscher noch übersetzte Gerichtsakten zur Verfügung gestellt. Sie mussten Dokumente unterzeichnen – darunter auch Geständnisse –, die sie nicht verstanden.
Oft werden die Angehörigen von Todestraktinsassen nicht von der bevorstehenden Hinrichtung in Kenntnis gesetzt, sondern sie erfahren davon manchmal erst im Nachhinein durch Berichte in den Medien.
Fehlerhaftes Justizsystem
Saudi-Arabiens Justizsystem basiert auf der Schari‘a und hat kein Strafgesetzbuch, was dazu führt, dass die Definitionen von Straftatbeständen und Strafen vage und weit offen für Interpretationen sind. Das System gibt den Richtern auch die Macht, Urteile nach ihrem Ermessen zu fällen, was zu großen Unterschieden und in einigen Fällen auch zu Willkür bei den Entscheidungen führt. Bei bestimmten Verbrechen ist schon allein der Verdacht für einen Richter ausreichend, je nach Schwere des Verbrechens und Persönlichkeit des Täters die Todesstrafe zu verhängen.
Dem Justizsystem fehlen auch die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren. Oft werden Todesurteile nach unfairen oder Schnellverfahren verhängt, die manchmal im Geheimen stattfinden. Angeklagten wird ständig der Zugang zu einem Rechtsanwalt verweigert oder sie werden auf Grundlage von „Geständnissen“ verurteilt, die durch Folter oder andere Misshandlungen erlangt wurden. Auch das Recht auf ein reguläres und vollständiges Berufungsverfahren wird ihnen verweigert. „Die grundlegend fehlerhafte Beschaffenheit des saudi-arabischen Rechtssystems öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Die Behörden spielen mit dem Leben der Menschen auf rücksichtslose und empörende Weise“, rügt Said Boumedouha.
Saudi-Arabien hat Kritik an seiner Anwendung der Todesstrafe vehement zurückgewiesen und damit argumentiert, dass Todesurteile in Übereinstimmung mit dem islamischen Schari’a-Recht und ausschließlich für die „schwersten Verbrechen“ und nach den strengsten bestehenden Standards verhängt werden.
„Behauptungen, die dahin gehen, dass Saudi-Arabien die Todesstrafe im Namen der Gerechtigkeit und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht anwendet, könnten nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Anstatt die empörende Bilanz ihres Landes zu verteidigen, sollten die Behörden Saudi-Arabiens dringend ein offizielles Hinrichtungsmoratorium einrichten und internationale Standards für ein faires Gerichtsverfahren bei allen Strafsachen implementieren“, sagt Said Boumedouha. „Wenn die Behörden beweisen wollen, dass sie sich strengen Standards für ein faires Gerichtsverfahren verpflichtet fühlen, müssen sie Reformen umsetzen, die Saudi-Arabiens Strafjustizsystem in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und internationalen Standards bringen.“
Bis zur vollständigen Abschaffung der Todesstrafe ruft Amnesty International die Behörden Saudi-Arabiens dazu auf, in Übereinstimmun mit dem Völkerrecht und internationalen Standards den Anwendungsbereich der Todesstrafe auf Delikte zu beschränken, die „vorsätzliches Töten“ einschließen sowie damit aufzuhören, minderjährige Straftäter und geistig Behinderte zum Tode zu verurteilen.
Amnesty International, Koordinationsgruppe gegen die Todesstrafe, 25. August 2015