Die iranischen Behörden haben in gut einem halben Jahr fast 700 Menschen exekutiert. Zwischen dem 1. Januar und dem 15. Juli 2015 sind vermutlich 694 Todesurteile vollstreckt worden, schreibt Amnesty International heute in einer Pressemitteilung und spricht von einem beispiellosen Anstieg der Hinrichtungen in dem Land. Bis zum 15. Juli 2015 hatten die iranischen Behörden offiziell 246 Hinrichtungen in diesem Jahr eingeräumt, aber Amnesty International liegen glaubwürdige Berichte vor, wonach weitere 448 Exekutionen in diesem Zeitraum stattfanden. Dies bedeutet, dass mehr als drei Personen pro Tag den Weg zum Galgen antreten mussten. Bei diesem schockierenden Tempo wird Iran schon in Kürze die Gesamtzahl der von Amnesty erfassten Hinrichtungen des vergangenen Jahres übertreffen.
Der Grund für den diesjährigen starken Anstieg der Hinrichtungen ist unklar, dürfte aber im Wesentlichen darin liegen, dass die Todesstrafe im Laufe dieses Jahres vermehrt wegen Drogendelikten vollstreckt worden ist. Irans Anti-Drogen-Gesetz sieht die Todesstrafe für eine Reihe von Drogenvergehen zwingend vor. Dies steht in direktem Widerspruch zum Völkerrecht, das den Einsatz der Todesstrafe auf „schwerste Verbrechen“ beschränkt. Dazu gehören nur solche Verbrechen, bei denen eine vorsätzliche Tötung vorliegt, keinesfalls jedoch nicht tödliche Verbrechen wie Drogendelikte. Es gibt auch keine Beweise dafür, dass die Todesstrafe eine besonders wirksame Methode zur Bekämpfung von Kriminalität, Drogenhandel oder -Gebrauch ist.
Nach Recherchen von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen dürften sich derzeit mehrere tausend Menschen in den Todeszellen Irans befinden. Die iranischen Behörden haben mitgeteilt, dass 80% der Gefangenen wegen Drogendelikten das Todesurteil erhielten. Sie haben jedoch keine genauen Zahlen vorgelegt. In vielen Fällen werden Todeskandidaten erst ein paar Stunden vorher über ihre bevorstehende Hinrichtung informiert und in einigen Fällen erfahren Familien erst Tage, wenn nicht Wochen später von der Vollstreckung.
„Irans niederschmetternde Hinrichtungsbilanz für das erste Halbjahr dieses Jahres zeichnet ein düsteres Bild einer Staatsmaschinerie, die vorsätzlich und gerichtlich sanktioniert Tötungen in großem Maßstab durchführt“, so Said Boumedouha, stellvertretender Direktor des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International. „Wenn die iranischen Behörden diese erschreckende Vollstreckungsrate beibehalten, werden wir wahrscheinlich Ende des Jahres mehr als 1.000 Hinrichtungen erleben.“
Der Anstieg der Hinrichtungen offenbart, wie sehr Iran alleine da steht wenn es um die Anwendung der Todesstrafe geht: 140 Staaten weltweit lehnen mittlerweile ihre Anwendung in Gesetz oder Praxis ab. Bereits in diesem Jahr haben weitere drei Länder die Todesstrafe vollständig aufgehoben. Iran war noch nicht einmal dazu bereit, während des heiligen Monats Ramadan Exekutionen zu stoppen. Abweichend von der sonst üblichen Praxis, sind mindestens vier Menschen im Laufe des vergangenen Monats hingerichtet worden.
Amnesty International wendet sich in allen Fällen ausnahmslos gegen die Todesstrafe. Todesurteile in Iran sind besonders beunruhigend, weil sie beständig von Gerichten gefällt werden, denen eine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit völlig fehlt. Sie werden verhängt für entweder vage formulierte oder übermäßig weitgefasste Straftatbestände oder Handlungen, die überhaupt nicht unter Strafe gestellt werden, geschweige denn die Todesstrafe nach sich ziehen sollten. Gerichtsverfahren in Iran sind zutiefst fehlerhaft, Gefangenen wird oft der Zugang zu Rechtsanwälten verwehrt und die Verfahrensabläufe hinsichtlich Berufung, Begnadigung und Strafumwandlung sind unzureichend. „Die iranischen Behörden sollten sich schämen, Hunderte von Menschen unter völliger Missachtung der grundlegenden Garantien für einen fairen Prozess hinzurichten“, kritisiert Said Boumedouha. „Die Anwendung der Todesstrafe ist immer abscheulich, aber es wirft zusätzliche Bedenken auf, wenn in einem Land wie Iran Gerichtsverfahren eklatant unfair sind.“
Amnesty International, Koordinationsgruppe gegen die Todesstrafe, 23. Juli 2015