Vietnam: Kein Gift, keine Todesstrafe

In Vietnam ruht seit einem Jahr der Vollzug der Todesstrafe. Grund hierfür ist jedoch nicht ein plötzlicher Sinneswandel der Regierung, sondern schlicht ein Mangel: Häftlinge können nicht hingerichtet werden, weil das Gift für Exekutionen fehlt.

Das Parlament hatte beschlossen, ab November 2011 die Hinrichtungsmethode umzustellen: Die bisher üblichen Erschießungskommandos wurden durch die Giftspritze ersetzt. Das Votum fiel nach monatelanger Parlamentsdebatte am Ende fast einstimmig. In dem Antrag hieß es zur Begründung: „Giftspritzen würden weniger Schmerzen bei den Verurteilten verursachen. Außerdem koste diese Methode weniger und verringere den psychologischen Druck, dem die Vollstrecker ausgesetzt sind.“

Probleme bei der Versorgung mit Wirkstoffen für die Giftspritze sind nun der Grund dafür, dass Todesurteile mit der neuen Hinrichtungsmethode nicht vollstreckt werden können. Das benötigte Gift muss importiert werden. Die Anti-Folter-Verordnung der Europäischen Union verbietet jedoch den Export von Narkosemitteln für Hinrichtungszwecke. Die Firma, die das Gift herstellt, hat ihren Sitz in Dänemark. Parlamentarier in Hanoi übten jüngst bei einer Debatte Kritik an der EU, die die Ausfuhr der nötigen Medikamente blockiere, um Vietnam zur Abschaffung der Todesstrafe zu bewegen.

Amnesty ruft den Gesetzgeber in Vietnam dazu, anstatt über die Wiedereinsetzung von Erschießungskommandos zu debattieren, unverzüglich ein Hinrichtungsmoratorium zu erlassen. „Die Vorstellung, dass der Tod durch die Giftspritze irgendwie ‚humanerʻ sei, ist aberwitzig – die Todesstrafe stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar, gleich in welcher Weise sie vollstreckt wird“, sagt Janice Beanland, Vietnam-Expertin bei Amnesty International.

Derzeit sind von den rund 500 zum Tode Verurteilten mehr als 100 Gefangene akut von der Hinrichtung bedroht. Die Haftbedingungen in den Todeszellen werden als hart beschrieben. In Vietnam kann die Todesstrafe für 22 Tatbestände ausgesprochen werden, darunter Mord, Raub und Drogendelikte. Offizielle Angaben über die Zahl der jährlichen Hinrichtungen gibt es nicht, da die Todesstrafen-Statistik als Staatsgeheimnis behandelt wird. Seit Januar 2012 hat Amnesty International von mindestens 70 neuen Todesurteilen erfahren. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen.

Amnesty International, Koordinationsgruppe gegen die Todesstrafe, 9. November 2012