USA vollstrecken umstrittenes Todesurteil

Im US-Bundesstaat Texas ist am 8. August ein möglicherweise geistig behinderter Mann hingerichtet worden. Dem 54-jährigen Marvin Wilson hatte ein vom Gericht beauftragter Sachverständiger in einem neuropsychologischen Gutachten einen Intelligenzquotienten (IQ) von nur 61 attestiert. Dieser weist ihn eindeutig als geistig zurückgeblieben aus. Wilson war schuldig gesprochen worden, 1992 einen Polizei-Informanten getötet zu haben.

Nach einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der USA aus dem Jahr 2002 dürfen geistig Behinderte nicht exekutiert werden. Das Gericht überließ es allerdings den Bundesstaaten, geistige Behinderung zu definieren und welchen Nachweis sie für das Vorliegen einer Intelligenzminderung einfordern. Zehn Jahre später hat Texas noch immer kein Gesetz erlassen, das diese Entscheidung rechtlich umsetzt. In Ermangelung einer solchen Rechtsvorschrift hat das texanische Berufungsgericht für Strafsachen 2004 vorübergehende Richtlinien erlassen. Danach wird bei einem IQ von unter 70 das Vorliegen einer geistigen Behinderung angenommen. Diese deutlich unterdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten begründen eine verminderte Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinn. Im Fall von Wilson hatte die Staatsanwaltschaft allerdings moniert, dass der Intelligenztest aus dem Jahr 2004, bei dem der niedrige IQ festgestellt worden war, fehlerhaft gewesen sei. Für diese Feststellung legte die Anklage keine Expertenaussage vor. Die Behörden erklärten, Wilson sei nach der geltenden Definition von Texas nicht geistig behindert.

Der Oberste Gerichtshof sah am Dienstag, 7. August, keinen Grund für einen Vollsteckungsaufschub und gab grünes Licht für die Hinrichtung. Auch der texanische Begnadigungsausschuss intervenierte nicht. Marvin Wilson wurde noch in der Nacht im Staatsgefängnis von Huntsville per Giftspritze exekutiert. Er war bereits der 25 Strafgefangene, der in diesem Jahr in den USA hingerichtet wurde, davon sieben im Bundesstaat Texas.

Amnesty International verurteilte die Hinrichtung scharf. Nach Auffassung von Amnesty dürfen Angeklagte, die geistig zurückgeblieben sind, wegen verminderter Schuldfähigkeit und eingeschränkter Urteilsfähigkeit keinesfalls zum Tode verurteilt werden. Der Rechtsbeistand von Marvin Wilson sprach in einer Stellungnahme von einer „Schande, dass der Bundesstaat Texas weiterhin unwissenschaftliche Richtlinien als Grundlage für die Entscheidung heranzieht, welche Staatsbürger mit einer geistigen Behinderung hingerichtet werden und welche nicht“. Er erinnerte daran, dass auch der Fachverband für Menschen mit geistiger Behinderung (American Association on Intellectual and Developmental Disabilities – AAIDD) diese texanischen Richtlinien stark infrage stellt. „Dies ist ein schockierendes Versagen einer einst als vielversprechend angesehenen verfassungsrechtlichen Verpflichtung und zeigt überdeutlich auf, dass wir als Gesellschaft immer noch nicht besonders viel Verständnis dafür entwickelt haben, wie es für viele unserer Mitmenschen ist, mit einer geistigen Behinderung leben zu müssen.“

Amnesty International, Koordinationsgruppe gegen die Todesstrafe, 8. August 2012